Wie sich Detailhändler gegen Onlinekonkurrenz aus China wappnen wollen
Pakete aus China überfluten die Schweiz. Die Mengen überfordern Zoll und Post – und chinesische Onlinehändler umgehen die Mehrwertsteuerpflicht mit Falschdeklarationen. Migros fordert deshalb Gesetze, um Gleichberechtigung zu schaffen – mit unangenehmen Nebenwirkungen.
Im Juni hat die "Aargauer Zeitung" einen Artikel publiziert, der den Widerstand der Migros gegen Falschdeklarationen von Lieferungen chinesischer Onlinehändler thematisierte. Mit der Angabe eines falschen Warenwerts umgehe China die Schweizer Mehrwertsteuer. Die Migros will sich gemeinsam mit Coop, Denner und Manor unter der bereits bestehenden Interessengemeinschaft (IG) Detailhandel Schweiz in einer Protest-Aktion gegen die Bevorzugung chinesischer Billiganbieter durch die Post wehren. Explizit war im Artikel vom Rückversand ganzer Container die Rede.
Bürokratischer Aufwand und hohe Kosten
Allerdings sagt Patrick Marty, Leiter der Geschäfts- und Medienstelle bei der IG Detailhandel Schweiz, auf Anfrage, dass nie von einem Boykott die Rede gewesen sei. Die IG Detailhandel setze sich lediglich für die Gleichberechtigung von Schweizer und chinesischen Onlinehändlern ein. Gemäss Marty ist der Import von Waren von China in die Schweiz günstiger als der Postversand innerhalb der Schweiz. Dies liege zum einen an der Falschdeklaration des Werts durch chinesische Onlinehändler und andererseits an dem Umstand, dass der Weltpostverein China als Drittweltland betrachte und dadurch die Post weniger Einnahmen mit der Zustellung erzielen könne.
Verantwortlich für die Falschdeklaration seien zwar die chinesischen Privathändler, jedoch zeige die blosse Aufforderung zur Einhaltung bestehender Gesetze keine Wirkung. "Es kann nicht sein, dass inländische Händler einem chinesischen Händler gegenüber benachteiligt werden dürfen", sagt Patrick Kessler, Präsident des Verbands Schweizer Versandhandel (VSV). Martina Wirth, Mediensprecherin bei der Eidgenössischen Zollverwaltung (EZV), äussert sich dazu folgendermassen: Sind Kuriersendungen ungenügend oder mit einem falschen Warenwert deklariert, müsste vor der Einfuhr die Post den Sachverhalt mit dem Empfänger abklären. Nur so könne eine korrekte Zollanmeldung erfolgen. Stelle die EZV bei Stichprobenkontrollen fest, dass Zollanmeldungen fehlerhaft seien, so müsse die Post die Zollanmeldung korrigieren. Es würden nur Massnahmen getroffen, wenn dafür auch die rechtliche Grundlage bestehe, was keinen Rückversand ganzer Container legitimiere. Stichprobenkontrollen erfolgen gemäss EZV ausserdem risikobasiert und situativ. Durch aktuell vermehrtes Aufkommen von Falschdeklarationen aus Asien sei eine erhöhte Kontrolle chinesischer Pakete anzunehmen. Oliver Flüeler, Mediensprecher der Post, bestätigt: "Ein grosser Teil asiatischer Sendungen kann wegen fehlender, unglaubwürdiger oder unvollständiger Zolldokumente nicht direkt verzollt werden."
Der ausländischen Konkurrenz die Stirn bieten
Wie die "NZZ" im August berichtete, nahm der Bundesrat das Postulat "Gleich lange Spiesse für alle Onlinehändler" von Tiana Moser, Grüne und Präsidentin des Fachverbands Elektroapparate für Haushalt und Gewerbe Schweiz, an. Ab dem 1. Januar 2019 müssen sich diejenigen ausländischen Versandhändler in ein Mehrwertsteuer-Register eintragen, die einen jährlichen Umsatz von mindestens 100'000 Franken mit Kleinsendungen aus dem Ausland in die Schweiz generieren. Somit gelten sie als steuerpflichtig und können in Bezug auf den Jahresumsatz nicht mehr von der Freigrenze von 65 Franken pro Versand profitieren. Wie die Schweiz allerdings chinesische Händler zur Abgabe der Mehrwertsteuer bewegen will und wie deren Umsatz überhaupt berechnet werden soll, dazu sagte Moser auf Anfrage jedoch nichts.
Es könnte trotz Gesetzesänderungen schwierig werden, die neuen Regelungen durchzusetzen, wenn Händler Wege finden, diese wieder zu umgehen. Denn selbst wenn sich ein chinesischer Händler in der Schweiz registrieren müsste, so könnte er die Mehrwertsteuerabgabe wieder durch falsch deklarierte Preisangaben und unüberschaubare Paketmengen zumindest verzögern oder gänzlich umgehen.
Die Sorgen des Schweizer Versandhandels sind Kessler vom VSV bekannt. Die Direktimport-Sendungsmengen nehmen laut Kessler seit zirka vier Jahren jährlich um 25 bis 30 Prozent zu, was den gesamten Schweizer Handel trifft. Besonders die kleinen Heimelektronik-, Sport-, Textilien- und Gadget-Händler bekämen die Billigkonkurrenz aus China zu spüren. Kessler bezweifelt, dass die Schweizer Händler mit den niedrigen Preisen konkurrieren können und auch sollten. Essenziell sei vielmehr die Differenzierung über Qualität, Service, Logistik und Verfügbarkeit. Eine schnellere Lieferung mache den Unterschied.
Plattformen sollen direkt Mehrwertsteuer verrechnen
Bereits vor fünf Jahren forderte der VSV im Zuge der Teilrevision des Mehrwertsteuergesetzes eine Mehrwertsteuerpflicht für Amazon. Diese soll ab dem 1. Januar 2019 umgesetzt und die Mehrwertsteuer somit direkt beim Onlinekauf verrechnet werden. Diese Direktabrechnung wird auch für chinesische Online-Marktplätze gefordert. Beat Vonlanthen (CVP) reichte diesbezüglich die Motion "MwSt.-Pflicht von Onlineplattformen bei Verkäufen aus dem Ausland in die Schweiz" ein, die vom Ständerat ohne Gegenstimmen angenommen wurde. Der vom Bundesrat zur Diskussion angenommene Vorstoss fordert, dass ausländische Online-Marktplätze bei Lieferungen in die Schweiz der Mehrwertsteuer unterstellt werden. Bis 2020 entgingen dem Fiskus ansonsten rund 100 Millionen Franken Mehrwertsteuer.
Auf Anfrage erklärt Vonlanthen, dass der überwiegende Teil des E-Commerces über grosse, globale Plattformen abgewickelt werde und diese die beste Möglichkeit hätten, ihre Händler und die Warenpreise zu überwachen. Die Marktplätze übernähmen für ihre Händler ebenfalls Aufgaben im Bereich der Logistik, des Vertriebs und der Zahlungsabwicklung. Durch die Motion wären die Plattformen verpflichtet, eine steuerliche Registrierung ihrer Händler für den Verkauf in die Schweiz zu verlangen und die Verrichtung der Mehrwertsteuer zu gewährleisten. Somit könnten bei Missbräuchen direkt die Plattformen zur Verantwortung gezogen werden, was die heutige Situation deutlich vereinfachen würde, da gerade bei Billigimporten aus Asien die Lokalisierung und gesetzliche Verfolgung der einzelnen Händler von der Schweiz aus praktisch unmöglich sei, so Vonlanthen. Bei Importen nach Grossbritannien seien etwa seit 2017 alle Onlinehändler verpflichtet, sich mit einer britischen Steuernummer bei den Plattformen zu registrieren. Werde dies unterlassen, hafteten die Plattformbetreiber für ihre Händler. Das britische Finanzministerium rechne durch diese Massnahme mit Mehreinnahmen von umgerechnet 1,3 Milliarden Franken bis 2021, sagt Vonlanthen. Auch in der Europäischen Union gebe es seit Dezember 2017 eine entsprechende Haftung, die Onlineplattformen für den Einzug der Mehrwertsteuer stärker in die Pflicht nehme und somit Falschdeklarationen der Privathändler bekämpfen soll.
Für Vonlanthen stellt diese Motion jedoch nicht den Endpunkt dar: Im Bereich des Onlinehandels bestehe weiterhin grosser Handlungsbedarf, um faire Wettbewerbsbedingungen herzustellen und die Chancen für die Schweizer Wirtschaft zu nutzen, sagte er. Zentral für Schweizer Anbieter sei der gleichberechtigte Zugang zum digitalen europäischen Binnenmarkt und insbesondere die Teilnahme am sogenannten MOSS-Verfahren. Das Mini-One-Stop-Shop-Verfahren soll den administrativen Aufwand vor allem für KMUs minimieren, indem Unternehmen die Mehrwertsteuer für Onlineverkäufe im gesamten EU-Raum auf gleiche Weise abrechnen könnten wie Umsätze im Inland. "Um Onlineexporte von Schweizer Unternehmen zu fördern, müssen zudem die Vorteile, die sich aus dem Image der Schweiz und dem hohen Vertrauenskapital ergeben, stärker genutzt werden, etwa über eine Label-Strategie", sagt er. Vonlanthens Motion "17.3766" verlangt vom Bundesrat eine Einführung eines einheitlichen Qualitätslabels für Schweizer Onlinehändler, um ihre internationale Position zu stärken. "Bei Onlineverkäufen vom Ausland in die Schweiz ist eine Diskussion über die im internationalen Vergleich hohe MwSt.-Freigrenze von 65 Franken nötig, die Importe auf Kosten der öffentlichen Hand verbilligt. Auch braucht es griffige Massnahmen, um Falschdeklarationen zu verhindern. Von Bedeutung sind nicht zuletzt die internationalen Posttarife. Deren derzeitige Ausgestaltung führt dazu, dass Sendungen von Asien nach Europa wesentlich billiger sind als in umgekehrter Richtung", sagt Vonlanthen.
Forderung nach Anpassung der Portokosten
Gemäss Kessler vom VSV braucht es für die Änderung der Verzollungsbestimmungen eine fundamentale Gesetzesänderung. Der VSV führe deshalb Gespräche mit der Zollverwaltung und den Behörden. Ausserdem seien auch Verhandlungen mit dem Weltpostverein wegen der günstigen Portokosten für deklarierte Drittweltländer angebracht, jedoch schwerer umzusetzen. Kessler verweist auf drastische Schritte anderer europäischer Länder: Schweden habe Anfang 2018 die Importsteuer erhöht, die 25 Franken Freigrenze gestrichen und eine zusätzliche, pauschale Bearbeitungsgebühr von 14.55 Franken pro Paket eingeführt.
Allerdings gibt es Stimmen, dass die Pauschale und somit das Wegfallen der Freigrenze nicht zu vermehrten Einkäufen in Schweden, sondern zu weniger Käufen insgesamt führen werde, da die Produkte aus China meist nicht existenziell notwendig seien. Ausserdem sind auch schwedische Kleinunternehmen auf die Lieferungen aus China angewiesen. Besonders bei kleinen, regelmässigen Bestellungen fällt die Pauschale ins Gewicht. "Thelocal.se" berichtete im April, dass aufgrund der neuen Pauschale insgesamt 400'000 Lieferungen in Postnord-Paketzentren nicht abgeholt worden seien. Nun müsse Postnord diese Sendungen mit einem durchschnittlichen Wert von 5.50 Franken an die Herkunftsländer, primär China, zurücksenden.
Gleichberechtigung mit Nebenwirkungen
Die extrem hohen Importmengen und das Umgehen der Preisdeklaration sprächen für eine gesetzliche Änderung beziehungsweise die konsequente Durchsetzung bereits bestehender Gesetze. In Zukunft könnte eine überstaatliche Regulierung, beispielsweise über den Weltpostverein, angestrebt werden, da dieses Problem nicht ausschliesslich die Schweiz betrifft. Jedoch zeigen die verschiedenen Vorstösse auch den Konkurrenzdruck, unter dem selbst grosse Detailhandelsunternehmen stehen. Trotzdem dürfen diese den Markt nicht leichtfertig über das Mittel der Gesetzesänderung zu ihren Gunsten manipulieren.
Die Falschdeklarationen von Importwaren sind zwar illegal und schädigen den gesamten Schweizer Handel. Die Stossrichtung des freien Handels und die Veränderungen im Zuge der digitalisierten Globalisierung können aber höchstens verzögert werden. Drakonische Gesetzgebungen wie eine Paketpauschale minimieren zwar den Preisunterschied, können auf Dauer die Marktbewegung aber nicht verhindern. Die 400'000 nicht abgeholten Pakete in Schweden implizieren, dass Konsumenten auf viele Bestellungen verzichten können. Die Lösungsansätze der Europäischen Union und Grossbritanniens zeigen, dass private Händler auf Onlineplattformen eher die Gesetze einhalten, wenn die Plattformbetreiber mehr in die Pflicht genommen werden. In einer Stellungnahme des chinesischen Onlinehändlers Alibaba heisst es, dass dieser ein Drittpartei-Online-Marktplatz sei, der Verkäufer und Käufer direkt miteinander mit gegenseitigem Vorteil verbinde. Es bestünden Regeln, wie etwa korrekte Preisdeklarationen, jedoch seien die einzelnen Händler für die Einhaltung der Vorschriften selbst verantwortlich. Diese Stellungnahme impliziert allerdings ein nicht existentes Verantwortungsbewusstsein. Denn durch die prozentuale Gebühr an die Plattform profitiert Alibaba letztlich indirekt davon, dass die Händler Waren falsch deklarieren, sie zu niedrigeren Preisen anbieten und sich dadurch einen Marktvorteil verschaffen. Da beim Warenkauf über die Plattform aber der genaue Preis eines Produkts festgestellt werden kann, haben die Onlineplattform-Betreiber die besten Voraussetzungen, den Mehrwertsteuerbetrag korrekt zu registrieren – und sollten dazu auch verpflichtet werden. Denn falsch deklarierte Paketsendungen lassen sich im Nachfeld nicht mehr so einfach feststellen.
Ein Punkt in der Diskussion um neue Gesetzgebungen findet hingegen wenig Beachtung: der Schweizer Endkonsument. Die Mehrkosten für die Erhebung der Mehrwertsteuer, die korrekte Preisdeklaration oder gar eine zusätzliche Paketpauschale haben letztlich die Schweizer Käufer zu tragen. Der Versuch auf Gesetzesweg den Geldbeutel des Schweizer Privatkunden zu treffen und so mit den Chinesen zu konkurrieren, kann als Mittel zur Marktregulation erachtet werden. Dieser Umstand lässt den Schluss zu, dass es der IG Detailhandel vermutlich weniger um die Gleichberechtigung der Onlinehändler geht als vielmehr um den eigenen Vorteil. Zudem profitieren die Mitglieder der IG Detailhandel – im Gegensatz zu vielen kleinen Händlern – von zollfreien Exporten durch ein seit 2013 bestehendes Freihandelsabkommen zwischen China und der Schweiz. Chinesische Firmen dürfen bereits seit Beginn die meisten industriellen Produkte zollfrei in die Schweiz exportieren und China senkt die Importzölle auf Schweizer Produkte, darunter viele Lebensmittel, sukzessive.