Blindenverband fordert Accessibility von Wirtschaft, Behörden und Politik
Eigentlich liessen sich digitale Produkte mit einem geringen Aufwand barrierefrei umsetzen. Allerdings fehlt die Sensibilisierung für das Thema. Unterstützt von der Politik, will der Blindenverband dies ändern. In der Digitalbranche tut sich indes diesbezüglich wenig.
Ob beim Abstimmen, bei Behördengängen oder beim Onlineshopping: Menschen mit Behinderung stossen in der digitalen Welt immer wieder auf Barrieren. Davon hat der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) nun genug: Die Selbsthilfeorganisation lancierte am 5. September ihre schweizweite Kampagne "Digitale Barrierefreiheit. Jetzt." an einer Medienkonferenz. Man wolle damit die Wirtschaft, die Politik und die Bevölkerung ansprechen, teilt der SBV mit. Und Vorstandsmitglied Luana Schena, verantwortlich unter anderem für die Interessenvertretung, kommentiert in der Mitteilung: "Für umfassende digitale Barrierefreiheit braucht es das Bewusstsein von Anbietern und Dienstleistern, die nötigen Vorgaben aus der Politik und die Sensibilisierung jedes Einzelnen von uns".
Kein Hexenwerk, aber oft vergessen
An der Medienkonferenz betonten Vertretende des Verbandes mehrfach, dass digitale Technologien, so sie denn barrierefrei eingesetzt würden, gerade für blinde und sehbehinderte Menschen ein grosses Potenzial bergen. So erzählte der selbst blinde SBV-Präsident Roland Studer etwa, dass er mit Hilfe seines Smartphones Zeitungen lese, den Fahrplan des öffentlichen Verkehrs konsultiere, sich über das Wetter informiere oder per SMS kommuniziere. Doch gerade in der Schweiz herrsche in puncto E-Accessebility ein Mangel. Vorstandsmitglied Luana Schena, hochgradig sehbehindert, liefert einen ganzen Strauss an Beispielen aus ihrem Alltag: Von unzugänglichen Slides an der Uni über nur mit fremder Hilfe identifizierbare S-Bahnen in Zürich Oerlikon bis hin zu Touch-Screens von Kaffeemaschinen oder Bezahl-Terminals in Restaurants. Als weiteren Beleg verweisen die Teilnehmenden an der Medienkonferenz auf die 2020 erschienene Accessibility-Studie der Stiftung "Zugang für alle", laut derer lediglich eine Minderheit der hiesigen Onlineshops barrierefrei zugänglich ist. Hinsichtlich Behördendiensten erinnern die Teilnehmenden etwa an das Accessibility-Fiasko in Zusammenhang mit der Anfang 2023 durchgeführten digitalen Volkszählung.
Die Visuals der Kampagne "Digitale Barrierefreiheit. Jetzt." des SBV. (Source: zVg)
Digitale Technologien "könnten eigentlich ganz einfach zugänglich gemacht werden", betont Studer. Doch noch immer gehe das Thema Accessibility schlicht vergessen. Studer fordert hier ein Umdenken: "Barrierefreiheit muss Teil der DNA der Gesellschaft werden", drückt er seinen Wunsch aus und illustriert seine Aussage: "Niemand würde heute ein Haus ohne Wasserleitung planen."
Der Markt und die Fachkräfte
Mit der jetzt lancierten Kampagne will der Blindenverband etwa die Wirtschaft an die Anliegen blinder und sehbehinderter Personen erinnern. Dies, argumentieren Studer und seine Mitstreitenden, käme auch ihnen zu gute, denn: "Der Wirtschaft muss bewusst werden, das Menschen mit Seheinschränkungen ein Markt sind. Ich kaufe doch keine Produkte, die ich nicht bedienen kann."
Doch mit mehr Accessibility wird auch das autonome Leben von Menschen mit Behinderung und deren Inklusion in den Arbeitsmarkt gefördert. Wie Studer argumentiert, gibt es tausende gut ausgebildete Betroffene, "die der Wirtschaft zur Verfügung stehen würden".
Die Kampagne nimmt Behörden und Politik ebenfalls in die Pflicht. So soll Barrierefreiheit bei unzugänglichen digitalen Behördendiensten eingeklagt werden können. Schweizweit fordert der SBV die Einführung von E-Voting und E-Collecting. Aktuell erlauben nur ausgewählte Kantone das elektronische Abstimmen - und auch die nur einem kleinen Teil ihrer Bevölkerung.
Einbau ist günstiger als Umbau
Unterstützung erhält der Blindenverband von mehreren Politikerinnen und Politikern. Es sei "Absolut höchste Zeit für eine Sensibilisierungskampagne", sagte etwa die Aargauer SP-Nationalrätin Gabriela Suter. Sie erinnert daran, dass es nicht nur um blinde und sehbehinderte Menschen geht. Insgesamt gebe es 1,7 Millionen Menschen mit Behinderung in der Schweiz und "alle sollen gleichermassen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können".
Gerhard Andrey, Freiburger Nationalrat für die Grünen, beklagt die Ignoranz für das Thema und hebt hervor: "Mit zunehmender Digitalisierung bei stagnierender Barrierefreiheit machen wir netto einen Rückschritt als Gesellschaft."
Es sei wichtig, bei Digitalprojekten das Thema Accessibility von Anfang an zu berücksichtigen, sagte Studer an der Konferenz. Als Beispiel erzählte er vom Redesign der Website seines eigenen Unternehmens. Insgesamt habe das Projekt etwa 120'000 Franken gekostet – die von Beginn weg eingeplante Barrierefreiheit habe mit 5000 Franken zu Buche geschlagen.
Von links: Delphine Klopfenstein Broggini, Nationalrätin (Grüne/GE), Gerhard Andrey, Nationalrat (Grüne/FR), Franziska Roth, Nationalrätin (SP/SO), Gabriela Suter, Nationalrätin (SP/AG), Roland Studer, Präsident SBV, Luana Schena, Vorstandsmitglied SBV, und Marianne Maret, Ständerätin (Die Mitte/VS). (Source: zVg)
Dem gegenüber stellt Studer das Beispiel der E-ID-App des Kantons Schaffhausen, wo er wohnt. Auch die, schätzte er, dürfte ursprünglich 120'000 Franken gekostet haben. Allerdings sei die App nicht barrierefrei umgesetzt worden, sodass er sie nicht nutzen konnte. Es habe 60'000 zusätzliche Franken gekostet, die App nachträglich barrierefrei umzubauen. Seine These: "Wenn ihr es nachträglich verbessern müsst, wird es teurer. Und ihr müsst es verbessern."
Der Kanton Schaffhausen bestätigt auf Anfrage nicht alle Zahlen. "Wie viel die Entwicklung der App gekostet hat, kann nur der Softwarehersteller beziffern", schreibt Barbara Berger, Geschäftsführerin von Informatik Schaffhausen. Sie fügt hinzu: "Der Kanton Schaffhausen hat einen Lizenzvertrag für die Nutzung der App abgeschlossen. Die Umsetzung der barrierefreien Anforderungen wurde in einem separaten Auftrag ausgeführt, im genannten Umfang. Jedoch wurde diese Entwicklung zusammen mit anderen Institutionen finanziert, was die Kosten für den Kanton Schaffhausen minimierte."
Der mit der Entwicklung der App betraute Softwarehersteller Procivis nennt gar keine Zahlen, "da es sich um vertrauliche Informationen handelt", wie Chief Product Officer Katrin Schuler auf Anfrage ausführt. Gefragt, ob sie die von Studer geäusserte These teile, schreibt sie: "Bei dem Entwicklungsstart der Lösung im Jahre 2017 waren mobile Technologielösungen noch nicht auf einem Reifegrad verfügbar, wie wir dies heute im Bereich der Barrierefreiheit kennen und deshalb kann man diese Aussage nicht bestätigen. Die fortlaufende Weiterentwicklung der Lösung in eine E-Governement-Plattform mit verschiedenen Komponenten neben der App selbst hat ebenfalls dazu beigetragen, dass die Anpassungen für eine umfangreiche barrierefreie App nicht von Anfang an planbar waren."
Digitalverbände bewegen sich nicht
Im Rahmen der Kampagne hat der SBV eine spezielle Website lanciert. Darauf gibt es die Möglichkeit, sich mittels Testimonials zu beteiligen. Auch in den sozialen Medien wolle man präsent sein, heisst es. Des Weiteren wolle man Infomaterial anbieten, Plakate aufhängen und Aktionen vor Ort durchführen. Schliesslich plane der SBV auch einen Hackathon. Dies übrigens nicht zum ersten Mal. Mehr zum vorherigen SBV-Hackathon, lesen Sie hier.
Dass mehr Sensibilisierung nötig ist, zeigt auch die Antwort auf die Frage, wie sich hiesige Digitalverbände in puncto Accessibility verhielten. "Man ist dem Thema gegenüber wohlwollend eingestellt", sagt Nationalrat Andrey auf eine entsprechende nachfrage. "Man findet es gut und wichtig und richtig." Doch wirklich pushen wollen die Branchenverbände das Thema nicht. Man habe dort "wie so oft in der Schweiz" den Eindruck, es regle sich von selber. "Ich habe den Support für Verbindlichkeit nicht erhalten", fasst der Politiker zusammen.
Barrierefreie Web-Projekte stellen Projektleitende vor eine Reihe besonderer Herausforderungen. Dabei beginnt die entsprechende Sensibilisierungsarbeit oft schon vor dem eigentlichen Projekt. Und auch nach Projektabschluss müssen Teams die Barrierefreiheit in ihrem Alltag weiterhin sicherstellen. Mehr dazu lesen Sie im Fachbeitrag.