SwissCovid: App-Entwickler Mathias Wellig über Tücken des Contact-Tracings
Selten hat ein Schweizer Digitalprojekt so grosse Hoffnungen geweckt wie dieses: Die SwissCovid-App soll helfen, Infektionsketten des Coronavirus in der Bevölkerung zu brechen. App-Entwickler Mathias Wellig zieht Zwischenbilanz und spricht über die Hintergründe, Herausforderungen und haltlose Kritik.
Die SwissCovid-App ist seit Anfang Juni live. Die Zahl der aktiven Nutzer liegt aber noch weit unter dem gewünschten Niveau. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Mathias Wellig: Ich hatte nie eine absolute Zielgrösse für die Nutzerzahlen im Kopf. Ich finde es schon sehr cool, dass wir nun fast 1,5 Millionen aktive Nutzer erreicht haben. Und vor allem: dass die Nutzerzahlen weiterhin steigen.
Sie steigen allerdings langsamer als erhofft.
Das liegt vermutlich daran, dass inzwischen eine gewisse Corona-Müdigkeit in der Bevölkerung eingekehrt ist. Das Virus verbreitet sich zwar nach wie vor – die Fallzahlen steigen sogar wieder. Doch in den Köpfen vieler Menschen sind die Risiken weniger präsent als während des Lockdowns. Wir haben uns ein Stück weit an die Situation gewöhnt. Dementsprechend sind wohl einige Leute nicht mehr so stark von der Dringlichkeit des Contact Tracing überzeugt. Ich hoffe, dass sich das ändern wird – dass wir also die Gefahren von Ansteckungen wieder bewusster wahrnehmen.
Beruht die Hoffnung auf der Informationskampagne des Bundesamts für Gesundheit?
Ich denke nicht, dass man nur das BAG in die Pflicht nehmen kann. Das Bewusstsein für Probleme entsteht schliesslich im gesellschaftlichen Diskurs. In dieser Hinsicht hat sich vieles verändert. Nehmen wir zum Beispiel die Diskussionen und Medienberichte im April. Da gab es wesentlich mehr Aufrufe zur Solidarität. Es ging nicht nur darum, sich selbst zu schützen, sondern vor allem seine Mitmenschen und insbesondere die Risikogruppen. Diese Haltung ist heute weniger zu spüren. Auch deswegen, weil die Medien in letzter Zeit sehr stark auf die Probleme des Contact Tracing fokussieren.
Einige dieser Probleme hat eine Recherche der "NZZ" aufgezeigt: Nur ein kleiner Teil der Neuinfektionen wird in der App gemeldet und die Alarmierung der Nutzer erfolgt manchmal zu spät. Wie beurteilen Sie das?
Es kann tatsächlich vorkommen, dass Personen positiv auf Covid-19 getestet wurden, einen Code bekommen, diesen aber nicht in der App eingeben. Vielleicht aus persönlichen Gründen. Solche Fälle sind schade, aber die Eingabe des Codes ist, wie die Nutzung der App, freiwillig. Das andere Problem, also dass die Codes zu spät verschickt werden, betrifft wahrscheinlich Einzelfälle. Trotzdem darf das nicht passieren. Solche Fälle sind natürlich ärgerlich, aber sie stellen nicht das Projekt in Frage. Viele der Prozesse sind neu und ich bin überzeugt, dass sie schnell besser werden.
Die Prozesse zwischen Bund und Kantonen haben zumindest am Anfang nicht so funktioniert wie geplant. Was kann man aus Entwicklersicht dagegen tun?
In technischer Hinsicht haben wir sozusagen das lokale Maximum erreicht. Sprich: Wir haben den Prozess, den wir gemeinsam mit den Bundesämtern und den beiden ETHs entworfen haben, so umgesetzt, dass er wie geplant funktioniert. Im Falle eines positiven Testresultats generieren Mitarbeitende der kantonalen Contact-Tracing-Behörden einen Code, den sie dann der positiv getesteten Person mitteilen. Der Ablauf ist simpel und das muss auch so sein, weil er sich in das komplexe, föderal organisierte Schweizer Gesundheitswesen einfügen muss. Dazu muss man aber auch sagen: So einfach das Prinzip ist, es ist trotzdem ein neuer, zusätzlicher Prozess. In einem Land mit 26 Kantonen ist es zumindest denkbar, dass es zu anfänglichen Schwierigkeiten kommt. Das ist aber noch lange kein Grund, in einen Reaktionismus zu verfallen. Im Gegenteil: Jetzt geht es darum, das Ganze möglichst schnell zu etablieren, sodass es zuverlässig läuft.
Drei Bundesbehörden, die ETH und die EPFL waren an der Entwicklung beteiligt. Wie haben Sie die Zusammenarbeit erlebt?
Es war sehr spannend. Zuerst arbeiteten wir vor allem mit den beiden Hochschulen zusammen. Da viele von uns ETH-Absolventen sind, war das quasi ein Heimspiel. Auch einige unserer ehemaligen Professoren waren mit an Bord, wir haben uns also auf Anhieb gut verstanden. In der ersten Aprilwoche entwickelten wir gemeinsam mit den Forschern eine sogenannte Referenzimplementierung – das war die Umsetzung eines Forschungspapers über ein dezentrales Modell für Proximity Tracing und zugleich die Basis für die heutige App. In der zweiten Phase kamen die Bundesbehörden hinzu. Dann ging es um die Umsetzung, also um die Integration der App in die Prozesse des Gesundheitswesens und ins Back-end für die Code-Generierung. Das war ein sehr aussergewöhnliches Projekt.
Inwiefern?
Wir hatten es mit vielschichtigen Problemen zu tun – mit technischen, politischen, epidemiologischen und gesellschaftlichen Fragen. Es gab viele Beteiligte aus unterschiedlichen Organisationen, trotzdem hat die Koordination erstaunlich reibungslos funktioniert – vor allem wenn man bedenkt, dass wir alle im Krisenmodus waren. Das hat mich schon bei der Aufteilung der Verantwortlichkeiten positiv überrascht: Wir wussten schnell, wer welche Aufgabe am besten erledigen kann. Und es haben alle ihr Bestes gegeben.
Wo gab es Schwierigkeiten?
Die grösste Herausforderung bestand darin, dass wir es mit einem grossen Moving Target zu tun hatten. Das heisst, die Projektziele haben sich mehrmals verändert. Etwa zwei Monate lang hatten wir immer wieder das Gefühl: Nächste Woche sind wir fertig. Und dann kam plötzlich wieder etwas Neues auf uns zu. Als sich beispielsweise die Politik eingeschaltet und im Eilverfahren eine Gesetzesgrundlage für die App geschaffen hat, mussten wir unsere Strategie und den Zeitplan anpassen sowie vieles neu koordinieren. Kurz darauf veröffentlichten Apple und Google die Exposure Notification API, ihre Schnittstelle fürs Contact Tracing, die wir dann testen mussten. Es gab also mehrere kurzfristige Planänderungen. Das war die grosse Challenge.
Was waren die technischen Herausforderungen?
Am Anfang haben wir uns vor allem mit Security-Problemen und Bluetooth-Signalen beschäftigt. Wir mussten sozusagen gegen die Bluetooth-Technologie hinarbeiten, weil wir die App von Grund auf selbst entwickelt haben. Weitere Herausforderungen waren zum Beispiel Hintergrundaktualisierungen, die auf iOS teilweise nicht ausgeführt wurden oder Akkusparmassnahmen, welche die App im Hintergrund beendeten. Mit der API von Apple und Google konnten wir viele dieser Probleme lösen. Allerdings tauchten wiederum neue Schwierigkeiten auf. Wir mussten verschiedene Systeme, die noch im Aufbau waren, miteinander kompatibel machen – und zwar unter hohem Zeitdruck. Denn das Ziel war klar: Wir wollten die Ersten sein, die auf die Schnittstelle aufsetzen.
Angenommen, Sie könnten das Projekt nochmals von vorne starten: Was würden Sie anders machen?
Ich würde schon im Januar damit anfangen (lacht).
Damit mehr Zeit für die Entwicklung bleibt?
Nicht unbedingt. Es war zwar die bislang strengste Zeit meines Lebens, aber es war auch extrem spannend und lehrreich. Es geht mir weniger um den Zeitplan, sondern vielmehr ums Timing. Ich hätte mir gewünscht, dass die App zu Beginn des Lockdowns live geht – zu einer Zeit, in der die Krise akut wird, die Fallzahlen explodieren und die Bevölkerung geschlossen hinter den Massnahmen gegen die Verbreitung des Virus steht.
Wie geht es mit der App weiter?
Die nächsten grösseren Updates kommen, sobald Apple und Google die Version 2.0 ihrer API veröffentlicht haben. Das bringt zwar nicht unbedingt zusätzliche, sichtbare Features mit sich. Aber es wird uns helfen, das Ganze komfortabler zu gestalten und Details zu optimieren. Weitere Neuerungen gibt es mit den Updates der mobilen Betriebssysteme. Apple hat mit iOS 14 einige systematische Usability-Probleme gelöst, die wir vorher nicht richtig angehen konnten. Das heisst, wir werden die App besser ins System integrieren können. Auch in Sachen User Experience haben wir noch einiges vor, da geht es allerdings um Feintuning. Und dann ist da noch die Frage nach dem nächsten grossen Schritt. Was können wir tun, damit mehr Nutzer die App installieren? Welche neuen Features wären hilfreich? Wie können wir die Kommunikation innerhalb der App optimieren und die Nutzer besser informieren? Diese Fragen sind noch offen.
Was freut Sie am meisten an der App?
Ich freue mich darüber, dass wir ein so komplexes Digitalprojekt in so kurzer Zeit gestemmt haben. Vielleicht ist das sogar ein Novum in der Schweiz – zumindest ist mir kein anderes Projekt bekannt, das in dieser Zeitspanne eine so hohe Adoptionsrate erzielt hat. Ausserdem freut mich das Produkt an sich: Die App macht etwas Sinnvolles.
Und was stört Sie daran?
Am Produkt selbst stört mich eigentlich nichts. Doch es ärgert mich, dass manche Kritiker ohne Evidenz behaupten, das ganze Projekt bringe nichts. Ich finde es zwar wichtig, dass man auch kritisch über die App und die damit verbundenen Herausforderungen diskutiert. Ich bin ja auch jemand, der in technischen Fragen sehr genau hinschaut und kritische Fragen stellt. Aber ich würde mir wünschen, dass man die App so sieht, wie sie ist: als einfaches Hilfsmittel, das nichts kostet und funktioniert.
Eine Mitte August durchgeführte Befragung des Vergleichsdiensts Comparis zeigte, dass die Schweizer Bevölkerung der SwissCovid-App inzwischen mehr vertraut als Onlineshops oder Social Media. Den Ergebnissen zufolge gibt es allerdings Unterschiede: Städter, Deutschschweizer, Personen mit höherer Bildung sowie solche mit höherem Einkommen haben tendenziell mehr Vertrauen in die App.