Verdammt nah an der Realität
Musik zuhause ist dank moderner Technik dem originalen Audiosignal schon ganz nah gekommen. Aber nicht jeder kommt mit dieser neuen Klangerfahrung auf Anhieb zurecht. Eine Orientierungshilfe ist notwendig.
Noch nie war Musik zuhause so akkurat wie heute. Dies dank HD-Audio-Formaten, moderner DSP-basierter Aufnahme- und Wiedergabeelektronik und nicht zuletzt dank neuer Entwicklungen in der Lautsprechertechnik. So erreicht man heute einen Realitätsgrad bei der Heimmusikwiedergabe, den viele Hörer aus dem Alltag nicht kennen. Die PA-Anlage bei einem Pop-Konzert, verbunden mit den absurden Lautstärken, erzeugt ein um mehrere Grade schlechteres Akustiksignal als eine gute Heimanlage. Die Mikrofone aber haben in der Regel – wenn der Toningenieur seinen Job gut macht – immer einen optimalen Platz. Der Tonmeister ist bemüht, ein stimmiges, ausgewogenes Abbild des Originalklangs aufzuzeichnen.
Ein modernes Audiosystem zeigt, was in einer Aufnahme drinsteckt, präsentiert hervorragend aufgenommene Klangkörper packend und realistisch auf der imaginären Bühne. Allerdings werden auch Schwächen einer Einspielung schonungslos an die Oberfläche befördert. Gute Aufnahmen klingen noch besser, fehlerhafte noch schlechter. In früheren Dekaden der Audiotechnik fand aus heutiger Sicht eine Deckelung statt. Standardklang und Spitzenklang lagen beieinander. Die Grenzen der Technik sorgten für eine Nivellierung nach unten.
Das Klangspektrum ist wesentlich grösser als früher
Moderne Digitaltechnik bietet Studios mit Digital Audio Workstations und zahlreichen Zusatzprogrammen einen immensen Werkzeugkasten zur Musikproduktion, mit Audioauflösungen weit jenseits des menschlichen Hörvermögens und des Schallspektrums unserer Instrumente. Man kann heute historische Aufnahmen verblüffend gut restaurieren. Reissues suchen als HD Remaster erneut den Käufer. Retrosound und HD Audio koexistieren. Die Klangerwartungen der Musikliebhaber driften zwangsläufig auseinander, je nach Orientierungsachse des Hörers, je nach Musikgenre. Manche wollen akkurate, präzise, originale Schallwandlung, andere einen bestimmten Sound, haben eine persönliche, subjektive Präferenz. Erfahrungen zeigen, dass im Pop-Bereich Kenner eines Albums das Original oft dem restaurierten Remaster vorziehen, trotz objektiven Klangverbesserungen.
Mit dem Restaurieren alter Bänder und HD-Audio stehen heute weit auseinanderliegende Klangwelten mit vielen Zwischenstufen zur Verfügung. Auch die Wiedergabeketten passen sich dieser Entwicklung an. Retrosound – weich, warm, ineinanderfliessend, breit abbildend – und transparenter Klang – klar, präzis, durchhörbar, punktgenau, räumlich – sind die beiden Pole.
Einordnen, zuordnen, beurteilen – aber wie?
Die punktgenauen Klangbilder können irritieren. Die gesteigerte Wiedergabepräzision führt zu neuen Klangwahrnehmungen. Eine Orientierungshilfe ist notwendig:
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In möglichst viele, unterschiedliche Aufnahmen reinhören und nicht voreilig bewerten.
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Sich der Produktionsmethoden in Aufnahme- und Mastering-Studios bewusst sein. Stark vereinfacht ergibt sich folgendes Schema:
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Klassik = integrales, homogenes Ereignis, Aufnahmen mit natürlichen Rauminformationen > Reproduktion des Ereignisses zuhause.
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Pop = örtlich und zeitlich verteilte Produktion, Close-Mike-Technik (keine natürliche Rauminformation), Klangmanipulationen sind Teil des kreativen Prozesses. Das endgültige Werk entsteht erst bei der Wiedergabe auf dem heimischen System.
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Diese stark unterschiedlichen Aufnahmeprozesse haben klangliche Konsequenzen. Für Mainstream-Audiosysteme konzipierte, stark überzeichnete Aufnahmen klingen auf High-End-Systemen grässlich, die Manipulationen machen sich störend bemerkbar.
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Die Erfahrungen mit Livemusik in den richtigen Kontext stellen. Über PA-Analge dargebotene Musik ist kein Massstab.
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Album-Booklet studieren. Hier finden sich oft nützliche Hinweise.
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Pop-Aufnahmen mit mittlerer bis starker Dynamikkompression oder misslungene Remasters sind wie historische Aufnahmen unbrauchbar zur Beurteilung eines Audiosystems. Ausser man hört nur historische Aufnahmen oder nur komprimierte Musik.
Klassik-Einspielungen eignen sich hervorragend, um das Thema auch gehörmässig zu erfassen. In der Klassik stehen für sehr viele Werke zahlreiche Einspielungen aus unterschiedlichen Epochen zur Verfügung. Die Aufnahmen unterscheiden sich in Interpretation, Aufnahmetechnik und Klangästhetik. Zudem stehen nur akustische Instrumente zur Verfügung, und das Aufnahmekonzept strebt die genaue Erfassung eines integralen Klangereignisses an.