Was es für ein klimaneutrales Energiesystem in der Schweiz braucht
Technologisch und wirtschaftlich könnte das Schweizer Energiesystem 2050 klimaneutral sein. In der Umsetzung stellen sich trotzdem Fragen. Zum Beispiel müsste der Ausbau der Photovoltaik schneller als heute erfolgen. Über mögliche Energieszenarien haben Forschung und Industrie an der ETH Zürich diskutiert.
Netto-Null ist ein Ziel, das das Schweizer Energiesystem bis 2050 erfüllen soll. Es bedeutet, dass die gesamte Energie-Wertschöpfungskette aus Erzeugung, Verteilung, Speicherung und Nutzung keine klimaverändernden Treibhausgase mehr in die Atmosphäre ausstösst und insgesamt klimaneutral funktioniert. Eine Schlüsselrolle spielt dabei der Ersatz von fossilen Energieträgern, was in der Schweiz durch die Elektrifizierung des Transport- und Heizungssektors erreicht werden kann. "Die Forschung zeigt uns, dass es technisch und wirtschaftlich möglich ist, dass das Schweizer Energiesystem im Jahr 2050 ohne fossile Energieträger auskommen kann", sagte Vanessa Wood, ETH-Vizepräsidentin für Wissenstransfer und Wirtschaftsbeziehungen, am öffentlichen Symposium der jährlichen ETH-Energiekonferenz. Diesem Argument folgte Monika Krüsi, die Verwaltungsratspräsidentin von Repower, einem Schweizer Vertriebs- und Dienstleistungsunternehmen im Energiebereich. Die Energiewirtschaft und ihre Lösungsansätze seien heute noch sehr heterogen. Für die Zukunft notwendig seien pragmatische Lösungen, ein investitionsfreundliches Marktumfeld sowie Zusammenarbeit, Flexibilität und Digitalisierung.
Um die verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen, wie sich ein klimaneutrales Energiesystem in der Schweiz bis 2050 zusammensetzen kann, haben ETH-Forschende mögliche Energieszenarien berechnet. Dabei zeichnen sich fünf Haupttrends ab, wie Gabriela Hug, Professorin für elektrische Energiesysteme und Vorsitzende des Energy Science Center (ESC), darlegte:
Die Stromimporte dürften künftig zumindest mittelfristig in den Wintermonaten höher als heute ausfallen, da die Schweiz aus der Kernenergie aussteigt und der Strombedarf durch die Elektrifizierung von Heizungen (Wärmepumpen) und Personenwagen (E-Mobilität) ansteigt.
Wenn die Elektrifizierung der Mobilität und der Heizungen in naher Zukunft schneller als heute voranschreitet, dann wird die Abhängigkeit der Schweiz von ausländischen Stromimporten mittelfristig (ca. 2040) zusätzlich zunehmen. Aus technischer und ökonomischer Sicht wäre sie aber machbar, wobei flexible Gaskraftwerke (einschliesslich der Ausscheidung und Speicherung von Treibhausgasen) je nach Szenario zu einer Option oder einem Muss werden könnten.
Der Klimawandel und die zunehmenden Wetterextreme werden die saisonale Verfügbarkeit der Wasserkraft verändern. Das wird Auswirkungen auf den möglichen oder nötigen Ausbau des Energiesystems haben: In extrem trockenen Jahren wird sich die Stromproduktion aus der Wasserkraft verringern und die Stromproduktionsspitzen der Flusskraftwerke dürften sich vom Sommer in den Frühling verschieben. Diese Verringerung bedeutet, dass insgesamt weniger Energie verfügbar sein wird, was den Investitionsbedarf erhöht. Dafür wird die Energie tendenziell eher dann verfügbar sein, wenn sie gebraucht wird. Die grösseren Unterschiede zwischen sehr nassen und sehr trockenen Jahren erschweren jedoch die Investitionsentscheidungen.
Die kostenoptimale Entwicklung des Schweizer Stromsystems hängt sehr stark von den Entwicklungen in den Nachbarländern ab: Je mehr Frankreich, Deutschland, Österreich und Italien auf erneuerbare Energieträger setzen und Überkapazitäten in diesem Bereich schaffen, umso kosteneffizienter würde ein Ausbau der flexiblen Stromproduktion (z.B. Gaskraftwerke, Pumpspeicher) in der Schweiz.
Würde der grenzüberschreitende Stromhandel zwischen der Schweiz und Europa langfristig stark eingeschränkt (in den Szenarien z.B. um 50 Prozent), so würde deutlich weniger Strom mit dem Ausland gehandelt werden können und die Schweiz müsste ihre inländische Stromerzeugungskapazität erhöhen.
Die Energieszenarien sind keine Prognosen. Sie machen keine Vorhersage über die Zukunft, sondern sie zeigen auf, welche Trends unter bestimmten Annahmen und Ausgangslagen möglich sind.
Ausbau der Photovoltaik
Im Vergleich der verschiedenen Szenarien bestätigt sich, wie wichtig der Ausbau der Photovoltaik in der Schweiz ist. Im "Nexus-e Referenzszenario", das sozusagen das Hauptszenario der ETH-Forschenden ist, und auf einer wirtschaftlichen Optimierung beruht, wird der Strom aus Wasserkraft und Photovoltaik (PV)-Anlagen den grössten Teil der künftigen Stromnachfrage decken, andere erneuerbare Energien wie Biomasse und Windkraft spielen eine geringere Rolle. Dieses Ergebnis ist vergleichbar mit den Netto-Null-Szenarien des Bundes, den "Energieperspektiven 2050+".
In den Vergleichsszenarien hingegen, in denen die Photovoltaik nicht derart stark ausgebaut wird wie das technisch und wirtschaftlich möglich wäre, wird es schwierig für die Schweiz, die künftige Stromnachfrage aus eigener Produktion zu decken. Sollte das Ausbautempo der Sonnenenergie auf dem heutigen Niveau verharren, dann würde die Stromnachfrage 2050 infolge des Ausstiegs aus der Atomkraft klar verfehlt und die Schweiz müsste viel Strom importieren.
Auch im "Referenzszenario Nexus-e" gleicht der starke Ausbau von Photovoltaik-Anlagen den Ausstieg aus der Kernkraft erst langfristig aus. Das würde bedeuten, dass vor allem um 2040 hohe Stromimporte nötig würden, wenn die Kernkraftwerke nicht mehr in Betrieb sind. Gegen 2050 könnten Windkraft, Pumpspeicher und Gaskraftwerke (einschliesslich der Speicherung der ausgeschiedenen Treibhausgase) den Unterschied machen, damit die Schweiz ihren Strombedarf decken kann.
Stromhandel mit Europa
Nicht zuletzt wird die Stromversorgung auch von den Rahmenbedingungen für den Stromhandel mit Europa beeinflusst werden: "Langfristige Einschränkungen des Stromhandels könnte die Versorgungssicherheit in der Schweiz schwächen, sodass es sinnvoll sein könnte, ab 2040 in Windkraft und Gaskraftwerke zu investieren", sagte Hug. Gaskraftwerke könnten als flexible Stromproduktionseinheiten dienen, die auch kurzfristig und saisonal, etwa im Winter, Strom erzeugen können. Sie seien je nach Szenario eine Option oder eine Notwendigkeit. Ihr CO2-Ausstoss müsste aber in jedem Fall abgeschieden und gespeichert werden.
Zusammenarbeit und Sektorkopplung
Um die Treibhausgasemissionen langfristig tatsächlich zu senken und das Energiesystem ganzheitlich zu optimieren – darin waren sich die Vertreterinnen aus Wissenschaft und Wirtschaft einig –, werden künftig sektorübergreifende Zusammenarbeit und Wertschöpfungsketten eine matchentscheidende Rolle spielen. "Die Verbreitung der erneuerbaren Energie-Technologien geht mit der Kopplung von Sektoren einher", sagte Annegret Stephan, Wirtschaftswissenschaftlerin der ETH-Forschungsgruppe "Nachhaltigkeit und Technologie".
Am Beispiel einer Energieplanung, die die Elektrifizierung von Gebäuden und Mobilität gemeinsam untersucht, zeigte Kristina Orehounig, Leiterin des Urban Energy Systems Laboratory an der Empa, wie eine solche Sektorkopplung auf Quartiersebene funktioniert. Wie genau Sektorkopplung und Flexibilität zu einem klimaneutralen Schweizer Energiesystem beitragen können, untersuchen Forschende in dem von der ETH Zürich geleiteten Forschungskonsortium "SWEET PATHFNDR", das im Mai lanciert wurde. Am Symposium zeigte sich lebhaft, was Vanessa Wood zu Beginn gesagt hatte: eine nachhaltige Energiezukunft geht alle etwas an, und es braucht auch alle.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei der ETH.
Lesen Sie ausserdem: Aufgrund neuer und bestehender EU-Regelungen ist die Schweizer Stromversorgung in Gefahr. Können sich die Schweiz und ihre Nachbarländer nicht auf gemeinsame Abkommen einigen, könnte der Strom im schlimmsten Fall für 500 Stunden ausfallen.